Seit über 20 Jahren arbeite ich an einer Politik für, mit und von Jugend. Ich glaube, es gibt viele Gründe, weshalb Jugendliche besonders unter Corona leiden, aber einen zentralen Lösungsansatz dafür, wie Politik und Gesellschaft damit umgehen sollten:
Vorweg: Jugend ist eine eigenständige Lebensphase. Jugendliche sind keine zu groß geratenen Kinder oder kleine Erwachsene. Jugend heißt: sich ausprobieren, sich orientieren, selbstständig werden. Hier werden wichtige Weichen für den weiteren Lebensweg gestellt.
Seit März 2020 klappt das noch weniger als vorher. Aber Corona macht die Herausforderungen an die Lebensphase Jugend (12- bis 27-Jährige) sichtbarer – und herausfordernder. Darum geht’s:
(1) Das verzerrte Jugendbild: Jugendliche werden politisch und medial entweder als Schüler_innen (Stichwort Homeschooling) oder als Regelbrecher_innen (heimliche Umarmungen + Verfolgungsjagden durch die Polizei) verhandelt. Alle reden von der „Generation Corona“. Jugendliche sind aber vielfältig, „die Jugend“ gibt es nicht. Dazu werden die Lebenslagen marginalisierter Jugendlicher als Argument für die Öffnung von Schulen vorgeschoben (Stichwort „sozial schwach“ – großes Missverständnis).
(2) Sanktionierung von Sozialkontakten: Jugendliche wissen sehr wohl, dass sie sich und andere gefährden, wenn sie Freund_innen treffen. Aber hier geht es nicht nur um Freizeitgestaltung, sondern um das Erlernen sozialer Kompetenzen. Manche treffen sich heimlich, andere isolieren sich. Schlechtes Gewissen + keine Chance auf soziale Lernräume = Angst vor der Zukunft. Für ein gutes Leben braucht es aber Mut, vor allem nach einer globalen Pandemie, die uns gezeigt hat, dass es so nicht weitergehen kann.
(3) Unsichere Übergänge: Nicht der Schulabschluss oder gar die Abschlussnote sind das Problem, sondern die ungeklärte Zukunft danach. Praktika, FSJ, Ausbildung, Studium, Ferienjob: Nichts ist planbar, alles kann sich jederzeit ändern, wenig davon kann „nachgeholt werden“. Gleichzeitig wird Jugendlichen vermittelt, sie sollten ihren Lebenslauf optimieren und sich permanent qualifizieren (Stichwort „Lücke im Lebenslauf“). Das führt zu psychischem Stress und macht viele Jugendliche krank.
(4) Fehlende Freiräume: Jugendliche sollten auch mal nichts müssen müssen. Freiwillige Angebote, rumhängen, 12 Runden kickern – in der offenen Jugendarbeit, in Jugendzentren und Jugendclubs dieser Republik findet das statt. Nun, fand statt. Sich entfalten und frei über eigene Zeiten und Räume entscheiden zu dürfen, ist auch während Corona ein Privileg für jene, die es sich leisten können. Freiräume sind aber wichtig, um herauszufinden, was einem wirklich liegt + wichtig ist. Zum Beispiel politische Teilhabe.
(5) Mangelnde Beteiligung: Die Proteste von Fridays for Future hatten alle ein Meta-Thema: Lasst uns endlich mitreden, überall! Schon vor Corona haben Jugendlichen beklagt, dass sie sich zu wenig von der Politik gehört fühlen, dass sie nicht nach ihren Ideen gefragt werden. Durch Corona hat sich dieses Gefühl massiv verstärkt. Und nein, es geht nicht allein um #Wahlalter16. Jugendliche wollen mitgestalten. Sie sind Expert_innen in eigener Sache und gar nicht so ungebildet, wie es manchen in den Kram passen würde.
Schaut man sich alle aktuellen Studien und Expertisen dazu an, dann sind sich alle einig: Dort, wo Jugendliche an der Gestaltung ihrer Lebenswelt beteiligt werden, dort sind sie glücklicher, gesünder und aktiver im Einsatz für eine demokratische Gesellschaft. Zu häufig wird über, nicht _mit_ Jugendlichen gesprochen. Eltern, Lehrer_innen, Politiker_innen – alle glauben zu wissen, was gut für Jugendliche ist. Die Orte, an denen sie nicht nur befragt werden, sondern sie selbst Verantwortung übernehmen können, sind jedoch rar.
Ein Lösungsansatz (nicht DIE Lösung) ist: Mehr Partizipation ermöglichen! In der Kommune, in der Stadt, im Dorf, im Kiez. In der Schule, im Verein, im Verband. An allen Themen, die Jugendliche betreffen. Ja, allen. Ja, das sind viele.
Wenn Jugendliche ernst genommen werden, in ihrer Sprache informiert werden, mitentscheiden dürfen, dann stärkt das nicht nur die Akzeptanz von politischen Vorhaben, sondern auch die lokale Demokratie. Sie lernen, dass es Beteiligung sich lohnt. Das nennt man Selbstwirksamkeit. Jugendliche in der Politik zu beteiligen ist anstrengend für Erwachsene: Wissen sie überhaupt, worum es geht? Können sie die Folgen ihrer Entscheidung abschätzen? Können alle Erwachsenen das? Ich behaupte: Nein. Muss das unser Anspruch an Politik sein? Ich sage: Ja.
Die Welt nach Corona braucht mutige Menschen jeden Alters. Wenn wir Jugendlichen jetzt immer noch das Gefühl geben, dass sie in erster Linie funktionieren müssen, aber nicht gehört werden, dass über sie entschieden wird, aber nicht mit ihnen, dann wird das nichts. Wo Jugendliche in Jugendparlamenten, Jugendforen, Jugendgemeinderäten, Jugendverbänden, in Schulvertretungen ernsthaft und nachhaltig beteiligt werden, da hören wir Zukunftsmusik! Und ich hoffe, dass noch viel mehr Menschen aus Politik und Gesellschaft künftig mitsingen.
Quellen (Auswahl):
- 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung
- 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung
- JuCo-Studien der Universität Hildesheim
- Positionspapiere der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
- Position des Deutschen Bundesjugendrings „Kinder- und Jugendarbeit auch in Krisenzeiten ermöglichen“
- Stellungnahmen des Bundesjugendkuratoriums
- Shell-Jugendstudie 2019
- SINUS-Jugendstudie 2020